
Turiya: Die transzendente Dimension des Bewusstseins
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Einführung in Turiya
Der Begriff "Turiya" stammt aus dem Sanskrit und bedeutet wörtlich "der vierte"1. In der indischen Philosophie und Spiritualität bezeichnet er einen Bewusstseinszustand, der jenseits der drei gewöhnlichen Zustände von Wachen, Träumen und Tiefschlaf liegt. Turiya wird oft als transzendentaler Zustand beschrieben, ein Zustand reiner Bewusstheit, der nicht an das Denken gebunden ist und die Erfahrung der Einheit mit der ultimativen Realität ermöglicht.
Die philosophischen Grundlagen von Turiya
Das Konzept von Turiya ist tief in der indischen Philosophie verwurzelt, insbesondere in den Upanishaden2. Die Mandukya Upanishad, eine der kürzesten, aber einflussreichsten Upanishaden, widmet sich ausschließlich der Erläuterung von Turiya. Sie beschreibt ihn als den "Bewusstseinszustand", der die drei gewöhnlichen Zustände von Wachen (Vaishvanara), Träumen (Taijasa) und Tiefschlaf (Prajna) transzendiert. Turiya wird als der Zustand des reinen Bewusstseins beschrieben, der frei von allen Eigenschaften und Begrenzungen ist. Er ist der Zustand der absoluten Einheit, in dem das individuelle Selbst (Atman) mit der universellen Realität (Brahman) verschmilzt.
Im Advaita Vedanta, einer der wichtigsten Schulen des Hinduismus, spielt Turiya eine zentrale Rolle. Advaita Vedanta, was so viel wie "Nicht-Zweiheit" bedeutet, lehrt, dass die wahre Natur des Selbst (Atman) identisch ist mit der ultimativen Realität (Brahman). Turiya wird als der Zustand angesehen, in dem diese Einheit erfahren wird und die Illusion der Trennung überwunden ist.
Turiya im Kontext anderer Bewusstseinszustände
Um die einzigartige Natur von Turiya besser zu verstehen, ist es hilfreich, ihn mit den drei gewöhnlichen Bewusstseinszuständen zu vergleichen:
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Wachzustand (Jagrat): Im Wachzustand sind wir uns unserer äußeren Umgebung bewusst und interagieren mit der Welt durch unsere Sinne. Dieser Zustand ist durch Aktivität, Veränderung und Objektbezogenheit gekennzeichnet.
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Traumzustand (Swapna): Im Traumzustand ziehen wir uns von der äußeren Welt zurück und erleben eine innere Welt von Gedanken, Bildern und Emotionen. Dieser Zustand ist weniger klar und definiert als der Wachzustand und oft von irrationalen und symbolischen Inhalten geprägt.
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Tiefschlaf (Sushupti): Im Tiefschlaf sind wir uns weder der äußeren Welt noch unserer inneren Welt bewusst. Dieser Zustand ist durch tiefe Ruhe und Erholung gekennzeichnet.
Turiya unterscheidet sich von diesen drei Zuständen in folgenden Punkten:
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Transzendenz: Turiya transzendiert die Dualität von Subjekt und Objekt, die in den drei gewöhnlichen Zuständen vorhanden ist. Es ist ein Zustand der Einheit, in dem das Bewusstsein nicht auf ein Objekt gerichtet ist, sondern sich selbst erfährt.
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Reinheit: Turiya ist ein Zustand des reinen Bewusstseins, frei von Gedanken, Emotionen und Sinneswahrnehmungen. Es ist ein Zustand der Stille und des Friedens.
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Zeitlosigkeit: Turiya ist nicht an Zeit und Raum gebunden. Es ist ein ewiger Zustand, der jenseits von Veränderung und Vergänglichkeit liegt.
Die Erfahrung von Turiya
Die Erfahrung von Turiya wird in spirituellen Texten und von Weisen oft als ein Zustand unbeschreiblicher Glückseligkeit, Freiheit und Einheit beschrieben. Ramana Maharshi, ein indischer Weiser des 20. Jahrhunderts, beschrieb Turiya als den "natürlichen Zustand" des Selbst, der durch Selbsterkenntnis erfahren werden kann3.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Erfahrung von Turiya zu beschreiben:
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Einheit mit allem: Im Zustand von Turiya verschwindet das Gefühl der Trennung und man erfährt sich als eins mit allem, was ist.
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Reines Bewusstsein: Turiya ist ein Zustand des reinen Gewahrseins, frei von Gedanken, Emotionen und Konditionierungen.
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Unendliche Stille: Turiya ist ein Zustand tiefer Stille und Frieden, jenseits von allen mentalen Aktivitäten.
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Zeitlose Gegenwart: In Turiya transzendiert man die Grenzen von Zeit und Raum und erfährt die ewige Gegenwart.
Turiya und das Selbst
Im Advaita Vedanta wird Turiya als der Zustand angesehen, in dem das wahre Selbst (Atman) erkannt wird. Atman ist die ewige, unveränderliche Essenz des Seins, die jenseits von Körper, Geist und Ego liegt. Die Erkenntnis von Turiya führt zur Selbstverwirklichung, der Erfahrung der Einheit von Atman und Brahman.
Turiya in der Meditation
Meditation und andere spirituelle Praktiken können dazu beitragen, den Zustand von Turiya zu erfahren. Durch Meditation kann man lernen, den Geist zu beruhigen und die Gedanken zur Ruhe zu bringen. Dies ermöglicht es, die tieferen Schichten des Bewusstseins zu erfahren und sich der wahren Natur des Selbst anzunähern.
Es gibt verschiedene Meditationstechniken, die zur Erfahrung von Turiya führen können, wie z.B. die Konzentration auf den Atem, die Mantra-Meditation oder die Gehmeditation.
Die Bedeutung von Turiya für die spirituelle Entwicklung
Die Erfahrung von Turiya kann das Verständnis der Realität grundlegend verändern und zu tiefer Einsicht, Weisheit und Transformation führen. Durch die Erkenntnis von Turiya kann man die Illusion der Trennung überwinden und die Einheit mit allem, was ist, erfahren. Dies kann zu einem Gefühl von Frieden, Freiheit und Glückseligkeit führen.
Turiya in verschiedenen spirituellen Traditionen
Das Konzept von Turiya findet sich nicht nur im Hinduismus, sondern auch in anderen spirituellen Traditionen, wie dem Buddhismus und verschiedenen mystischen Traditionen. Im Buddhismus wird ein ähnlicher Zustand als Nirvana bezeichnet, der als das Erlöschen des Leidens und das Ende des Kreislaufs von Geburt und Tod beschrieben wird.
Turiya und moderne Spiritualität
In der modernen Spiritualität wird Turiya oft als ein Zustand des höheren Bewusstseins interpretiert, der durch Meditation und spirituelle Praxis erreicht werden kann. Turiya wird als ein Weg zur Selbsterkenntnis und zur Transformation des Bewusstseins gesehen.
Kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept von Turiya
Obwohl Turiya ein faszinierendes und tiefgründiges Konzept ist, gibt es auch kritische Stimmen, die seine Bedeutung und Relevanz hinterfragen. Einige Kritiker argumentieren, dass Turiya ein abstraktes Konzept ist, das keine praktische Bedeutung für das Leben hat. Andere kritisieren die Vorstellung, dass Turiya ein Zustand jenseits des gewöhnlichen Bewusstseins ist, und argumentieren, dass alle Erfahrungen im Rahmen des relativen Bewusstseins stattfinden.
Schlussfolgerung
Turiya ist ein komplexes und vielschichtiges Konzept, das seit Jahrtausenden spirituelle Sucher fasziniert. Es bietet einen Rahmen für das Verständnis der Natur des Bewusstseins und der Beziehung zwischen dem individuellen Selbst und der ultimativen Realität. Obwohl die Erfahrung von Turiya schwer zu beschreiben ist, kann sie einen tiefgreifenden Einfluss auf das Leben eines Menschen haben und zu einem Gefühl von Frieden, Freiheit und Einheit führen.
Die Erforschung von Turiya kann uns helfen, die Grenzen unseres eigenen Bewusstseins zu erweitern und ein tieferes Verständnis von uns selbst und der Welt um uns herum zu entwickeln.
Quellen
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Feuerstein, G. (1991). Die Yoga-Tradition: Geschichte, Literatur, Philosophie & Praxis. Theseus Verlag.
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Swami Nikhilananda (2013). Mandukya Upanishad. Ramakrishna-Vivekananda Center.
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Maharshi, R. (2000). Sei wie du bist: Die Lehren von Sri Ramana Maharshi. Fischer Taschenbuch Verlag.